Die „Gemeine Wegwarte“ (Cichorium intybus) ist eine blaublühende Wildpflanze, die in Mitteleuropa auf Wiesen und besonders an den Rändern von Wegen verbreitet ist.
Sie war nicht nur in Norditalien ein typisches Gemüse der Armen, das trotz seiner Bitterstoffe sehr begehrt war. Man erkannte seine gesundheitsfördernde und heilende Wirkung, die gerade wegen der einseitigen Ernährung mit dem ewig gleichen Getreidebrei überlebenswichtig war, besonders wenn der Brei aus Maisgrieß hergestellt war, der den Organismus nicht mit allen lebenswichtigen Stoffen versorgen konnte. Die Kultivierung und Veredelung dieser Pflanze wurde im 19. Jahrhundert besonders in Belgien vorangetrieben, wo man entdeckte, dass die im Spätherbst geernteten Pflanzen mit den dicken Wurzeln, wenn sie abgedeckt gelagert werden, noch in der Lage sind, mitten im Winter neue, knackige Triebe zu bilden. Wenn dieser zweite Wachstumsschub in lichtlosen Räumen stattfindet, kommt es zu einer wesentlichen Reduktion der Bitterstoffe. Am wasserreichen Südrand der Alpen begann man zu dieser Zeit eine unglaubliche Vielfalt aus der Pflanze, die hier Radicchio heißt, zu züchten.
Im Veneto wird dieses seidig-zarte Gewächs geradezu kultisch verehrt
Viele Städte entwickelten eine eigene, unverwechselbare Sorte: Verona, Chioggia, Castelfranco und vor allem Treviso. Hier sind die Bedingungen ideal. Das Land ist von artesischem Quellwasser geradezu unterspült, selbst der Fluss Sile kommt hier nicht aus den nahen Alpen, sondern direkt aus der Erde. Dieses hervorragende Wasser, das hier unter Druck mit konstanten 12–14 Grad aus den Quellen sprudelt, ermöglicht die Produktion des Königs aller Zichoriengewächse: des „Radicchio rosso tardivo di Treviso“, wie er mit vollem Namen heißt. Seine Erntesaison beginnt Mitte November und dauert bis in den Februar hinein. Es handelt sich also um ein ausgesprochenes Wintergemüse, das außerhalb der Saison nirgendwo zu bekommen ist. Im Veneto wird dieses seidig-zarte Gewächs geradezu kultisch verehrt. Ende Dezember wird im Zentrum von Treviso jedes Jahr ein riesiges Radicchiofeld aufgebaut, um diese Knospen des Winters zu feiern. Die Anbaumethode ist komplex und arbeitsintensiv: Aus ausschließlich selbst produzierten Samen werden im Frühjahr zarte Pflänzchen gezogen, die im Sommer nach der Getreideernte auf den Feldern ausgesetzt und reichlich gegossen werden.
Das temperierte Wasser der artesischen Brunnen in den Wasserbecken regt die alten Mutterpflanzen zu einem zweiten Wachstumsschub an.
Bis zum Spätherbst reifen sie zu großen Pflanzen mit dicken, eher schlappen Blättern und rübenartigen Wurzeln heran. Selbst bei Frost und Schnee sieht man sie auf den fetten Äckern mehr liegen als stehen. In diesem komplett ausgewachsenen und schon welken Zustand sind die Pflanzen ungenießbar, aber genau da werden sie samt der Wurzel geerntet und zu Bündeln von ein paar Stücken zusammengebunden, die in lichtlosen Räumen nebeneinander in große Becken gepackt werden. Ihre Wurzeln werden dabei von dem frischen und temperierten Quellwasser umspült. Die Pflanzen reagieren mit einem zweiten Wachstumsschub und bilden in ihrer Mitte ein zartes Bündel von neuen Trieben aus. Nach 2–3 Wochen wird dann das zarte Herz herausgeschnitten und die Wurzel geschält. Das Ergebnis ist ein Gemüse, das roh, gedämpft, gebraten oder gegrillt eine unvergleichliche Delikatesse darstellt, die den Geschmack und die vitale Kraft des fernen Frühlings ahnen lässt.
Im Gegensatz zu anderen Radicchio- und Chicoree-Sorten ist der Tardivo am wenigsten bitter, besonders im rohen Zustand ist der Geschmack mild und frisch, die Textur seidig zart und gleichzeitig besonders knackig. Beim Braten und Grillen entwickelt er ein kräftigeres Aroma mit einer angenehm leichten Bitternote. Seiner Wirkung auf die Gesundheit werden fast magische Kräfte zugeschrieben. Aber vor allem das Aussehen dieser Triebknospe macht sie zur absoluten Beautyqueen unter den Gemüsen: reines, jungfräuliches Weiß, das über zarte Rosatöne in ein leidenschaftliches Tizianrot übergeht, mit elegant geschwungenen Kurven und einer schimmernden Oberfläche wie feinste Seide. Diese Schwärmereien sind nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern durchaus häufig gehörte Metaphern, wenn über dieses Gemüse gesprochen oder geschrieben wird. Es ist nicht nur ein kommerzielles Produkt, sondern vor allem auch lokale kulturelle Identität, gleichsam ein Ausdruck von Liebe zum Essen und von hoher handwerklicher Intelligenz, durch die etwas ganz Besonderes geschaffen wurde.
herrlich
Der R. tardivo ist der Hammer. Leider nur sehr schwierig zu bekommen. Nur lecker.
Danke für die Rezepte.