Marie Pölzl, Köchin in den 1870er Jahren auf Schloss Arenberg bei Fürstin Sophie von Auersperg und Arenberg in Salzburg, später Köchin bei Baronin Mary Sina von Hodos in Klagenfurt.
Ein Text von Michael Langoth
Es war schon in den späten 1990er Jahren, als mir mein Vater drei alte, zerfledderte Notizbücher in die Hand drückte. Er meinte, ich sollte sie bekommen, weil ich ja am Kochen interessiert sei.
Er selbst hatte sie geerbt, schon vor dem Zweiten Weltkrieg, von einer Urgroßtante, von der es hieß, dass sie eine formidable Berufsköchin war, die Zeit ihres Lebens in diversen Adelshäusern gekocht hatte. Aber mehr als ihren Namen wusste niemand mehr über sie. Ihre einzige Verlassenschaft waren drei handgeschriebene Bücher aus den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts.
Zwei davon beinhalten ihre gesammelten Rezepte (über achthundert) und das dritte ist ein lückenlos geführtes Protokoll über jede einzelne Mahlzeit, die sie 1877 und 1878 auf Schloss Arenberg Tag für Tag gekocht hatte, sowohl für die Herrschaft, als auch fürs Gesinde.
Ich war hoch erfreut und brennend interessiert, nur hatte die Sache einen Haken: ich konnte die Schrift nicht lesen!
Außer den Überschriften waren alle Texte in Kurrent geschrieben, nochdazu in einer Sprache und Rechtschreibung, die von der heutigen stark abweicht. In den 1870er Jahren gab es noch keine verbindliche deutsche Rechtschreibung und man schrieb, wie man wollte. Auch handelt es sich um private Notizen, die nie dazu gedacht waren, dass sie von Anderen gelesen würden. Außerdem war die gute Ur-Ur-Großtante keine Literatin, sondern Köchin.
Ich hatte da also einen Schatz geerbt, den ich Jahrzehnte lang nicht lesen konnte – bis mir Anfang 2022 eine “Künstliche Intelligenz” zu Hilfe kam: “read coop.eu” nennt sich der Server, auf dem man gescannte Kurrent-Handschriften hochladen kann, die dann mit Transcribus, einem KI-gestützen Schrifterkennungssystem, in editierbaren Text umgewandelt werden.
So weit, so gut – doch wenn man glaubt, dass dabei ein sinnvoller Text herauskommt, den man gleich versteht, dann hat man sich getäuscht. Natürlich macht der Algorithmus Fehler und verwechselt Buchstaben, was bei einer Kurrent-Handschrift auch kein Wunder ist, denn viele Buchstaben sind fast identisch, zum Beispiel “n” und “e”.
Einige lustige Stilblüten gefällig? – “Kinderbraten vom Schlögl” oder “Gieb den Arsch darein und sprudle gut ab”. Auch ein “Sudelbert” tauchte statt “Nudelbrett” auf. Seitdem hat sich der fiktive Name “Sudelbert Zausel” in meinem Kopf festgesetzt – ich weiß nicht warum, aber ich sehe ihn vor mir!
Beizkreidl und Bamasankäß
Jedenfalls war es alles andere als einfach, diese Rezepte in einen heute verständlichen Text zu transskribieren. Schon bei den Begriffen für Zutaten und Kochwerkzeuge brauchte man Phantasie: Marie arbeitete mit “dem Kasrol”, “dem Weidling” und “dem Modl”. Sie verarbeitete “Limonischaln”, “Zwiflhaupt”, “Wurzlwerck”, “Pomarantschn”, “Beizkreidl” und “Bamasankäß”, und kochte Gerichte wie “Olio Supe”, “Dötterkoch in Dunst”, “Schaudo”, “March Eiterl”, “Pire”, “Stoffad”, “Fleisch ala Türk” und “Schoklad Bodin”.
Wann Marie Pölzl ihre Dienststelle auf Schloss Arenberg angetreten hatte ist unklar. Die Aufzeichnungen sind mit 1877 bis 1879 datiert. Fest steht, dass sie in einem Frauenhaushalt gearbeitet hat, denn ihre Dienstgeberin Sophie von Arenberg war schon verwitwet, als sie 1861 das Schloss erwarb und umbaute.
Es gab kein Menü ohne Rindsuppe und gekochtes Rindfleisch
Besonders interessant ist das Speiseprotokoll, in dem vermerkt wurde, was an jedem Tag gekocht wurde.
Dabei wird klar, welche Rolle damals Wien als Schlachthof und Drehscheibe für den Rindfleischhandel gespielt hatte. Wien war quasi das “Chicago von Mitteleuropa”, wo die riesigen Rinderherden aus dem Osten der Doppelmonarchie hingetrieben und verarbeitet wurden. Selbst im 300 Kilometer entfernten Salzburg waren Rindfleisch und -Knochen die Grundlage des Kochens.
Fazit: es gab kein Menü ohne Rindsuppe und gekochtes Rindfleisch!
Aufgezeichnet sind über 300 Menüfolgen, die als “Frühstück”, “Diner” und “Abends” bezeichnet sind; wobei mit Frühstück wohl ein “Gabelfrühstück” oder frühes Mittagessen gemeint war, denn da gab’s Gerichte wie “Gollasch”, “Rostbraten” oder “Paprikahuhn mit Reis”, meist noch gefolgt von Mehlspeisen wie “Powidltascherl” oder “Dalken”.
Alle “Diners” begannen ausnahmslos mit einer Suppe, gefolgt von einem zweiten Gang, der immer aus gekochtem Rindfleisch bestand, begleitet von sehr vielen unterschiedlichen Beilagen und Saucen.
Erst dann folgte der Hauptgang mit Braten, Wild, Fisch oder Geflügel. Danach gab es die obligate Mehlspeis’.
Die Dienerschaft bekam üblicherweise nur Suppe, gekochtes Rindfleisch mit Beilage, und Mehlspeis’. Ausnahmen gab es nur selten.
Auch das vergleichsweise kleine Abendessen begann immer mit Suppe.
Hier ist ein Beispiel für eine typische Menüfolge:
Rindsuppe, Wurzelwerk, Einbrenn und Mehlspeis als Eckpfeiler einer Kochkultur
Wenn man sich die Rezepte anschaut, fällt die omnipräsente Verwendung von “Wurzelwerk” auf, das damals aus Knollensellerie, gelber Rübe und Petersilwurzel bestand. Bei fast allen Suppen und Fleischgerichten wurde dieses Wurzelwerk mit Zwiebel teilweise kräftig (“bräunlicht”) angeröstet. Dann kam eine “Buttereinbrenn” (Mehlschwitze) dazu und schließlich wurde mit Rindsuppe aufgegossen und lange gedünstet – kein Kochen ohne Rindsuppe!
Vom Wiener Schnitzel keine Spur – dafür 17 verschiedene Rezepte für Linzer-Torte!
Erstaunlich ist auch die sehr häufige Verwendung von Zitronenzeste (Limonischaln). Auch Kapern, Sardellen, Vanille und Parmesan (Bamasankäß) sind durchwegs gebräuchlich. Panierte Schnitzel oder andere frittierte Speisen fehlen allerdings vollständig. Vom Wiener Schnitzel keine Spur – dafür 17 verschiedene Rezepte für Linzer-Torte!
Von insgesamt 838 Rezepten betreffen mehr als 500 sogenannte “Mehlspeisen” inklusive Bäckereien und Torten.
Hier sind einige Beispiele:
- Leberreis-Suppe
Man schneidet auf einem Brett Zwiebel, Petersil, Limonischale, wenig Knoblauch und Majoran sehr fein zusammen und schabt 1/4 Pfund (125 g) Rindsleber und 1/2 Pfund (250 g) Kalbsleber aus und schneidet sie ebenfalls sehr fein darunter. Dann nimmt man 8 in Milch geweichte Semmeln und schneidet sie auch darunter. Dann treibt man in einem Weidling 1/4 Pfund (125 g) Butter ab. 8 ganze Eier nach und nach einrühren. Immer abwechselnd ein Ei und einen Löffel voll geschnittener Lebermasse, und so fort, bis alles verbraucht ist. Gib dann Salz und Pfeffer dazu und mache die Masse mit Semmelbröseln fest. Durch ein Reibeisen in siedende Rindsuppe drücken und kochen lassen.
- Sardellen-Sauce
Schneide Petersil, Zwiebel und Limonischale sehr fein zusammen, mache eine Buttereinbrenn, röste das Grüne gut mit der Einbrenn, dann nimm eine Sardelle, putze sie schön und schneide sie ebenfalls sehr fein, gib sie in die Einbrenn, mit Suppe verdünnen, durch ein Haarsieb passieren und aufkochen lassen.
- Esterhazy Rostbraten
Die Rostbraten werden geklopft, gesalzen, gepfeffert, in Mehl eingetaucht und etwas überbraten. Dann wird alles Wurzelwerk fein geschnitten und geröstet, nämlich Zwiefel, Petersil, gelbe Rüben, Zellerie, Limonischale und Sardelle. Mit Rahm aufgießen, die Rostbraten hineingeben, zudecken und in der Röhre dünsten lassen. Die Soß wird nicht passiert.
Leberspätzlesuppe! Ich erinnere mich! In meiner Kindheit gehörte die Rindssuppe auch obligatorisch zum Sonntagsessen. Danke für das Rezept. Mengenreduziert werde ich das mal kochen. Allerdings als Hauptgericht…
Die übersetzten Retepte solltet ihr als Buch herausbringen ,das wäre für viele sicher interessant
Vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag. Schoklad Bodin ist einfach herrlich!