Nicht nur Geschmack und Aroma sind entscheidend für die Qualität einer Speise, sondern auch Textur, Form, Struktur und alles, was über die haptisch-taktile Sensorik im Mund wahrgenommen wird.
Geschmacksknospen im Innenraum des Mundes (mindestens 5 Typen) und Rezeptorzellen in der Nasenhöhle (ca. 350 Typen) analysieren die chemische Zusammensetzung der Speise und leiten diese Reize an das Gehirn weiter, wo wir sie als Geschmack und Aroma wahrnehmen. Diese beiden Sinne, der gustatorische und der olfaktirische, sind aber nur zum Teil dafür ausschlaggebend, ob uns eine Speise schmeckt oder nicht. Mindestens ebenso wichtig ist die haptische Wahrnehmung im Mund, das tastende Erspüren von Oberflächen, Formen, Konsistenzen, Strukturen und Temperaturen.
Diese tastende Wahrnehmung über Zunge, Lippen, Zähne und Mundhöhle samt Speiseröhre ist ein mächtiges Sensorium, das uns die komplexesten strukturellen Eigenschaften wahrnehmen lässt. Die deutsche Sprache kennt dutzende Wörter, die diese Mundgefühle ziemlich exakt bezeichnen:
knusprig, saftig, zart, kernweich, kernig, trocken, schleimig, glitschig, gatschig, kross, klebrig, knackig, flaumig, luftig, lasch, breiig, gummig, zäh, hart, weich, flüssig, sandig, mehlig, staubig, stückig, holzig, bissfest, schmierig, pampig, elastisch, schaumig, brüchig, bröselig, gallertig, ölig, fettig, wassrig, teigig, körnig, fasrig, sämig, glatt, prickelnd, spritzig, letschert, bazig, al dente, brennheiß, heiß, warm, lauwarm, kühl, kalt, eiskalt, etc…
Allein die Anzahl der Bezeichnungen, die einem sofort einfallen, macht deutlich, wie detailreich diese sinnlichen Empfindungen beim Essen sind – und allesamt haben nichts mit Aromen zu tun!
Die Beachtung der Möglichkeiten, die sich durch “haptisches Design” einer Speise ergeben, ist ganz entscheidend für gutes Kochen
Die Beachtung der Möglichkeiten, die sich durch “haptisches Design” einer Speise ergeben, ist ganz entscheidend für gutes Kochen. Falsche Konsistenzen können eine Speise komplett ruinieren. Man denke nur an zu lange gekochte Pasta oder Reis, oder auch an letscherten Blattsalat, pampige Saucen und trockenes Fleisch.
Andererseits kann eine perfekte Kombination unterschiedlicher haptischer Eigenschaften – zum Beispiel knusprig, saftig und cremig zugleich – eine Speise in die höchsten Gefilde der Köstlichkeit katapultieren.
Es geht eben nicht nur um den Nährwert, sondern darum, dass gutes Essen geil sein muss!
Sonst könnten wir ja alles als Brei aus der Tube essen, so wie die ersten Astronauten, die dabei fast wahnsinnig wurden.
Kochen beginnt mit dem Zerteilen der Nahrungsmittel.
Kochen beginnt mit dem Zerteilen der Nahrungsmittel. Neben dem Reiben, Mahlen, und Schaben ist das Schneiden wohl die wichtigste Zerteilungstechnik. Und genau hier beginnt der Gestaltungsprozess mit der Frage: Wie schneide ich und warum?
Die gute alte Salatgurke soll hier als einfaches Beispiel dienen, um aufzuzeigen welche unterschiedlichen Schneidetechniken unterschiedliche haptische Empfindungen auslösen.
- Ich bin mit dem klassischen österreichischen Gurkensalat aufgewachsen, bei dem sehr dünne Scheiben gehobelt werden. Besonders begeistert war ich davon nie – irgendwie zu gatschig und zu viel Flüssigkeit, obwohl ich den Geschmack mag! Doch beim klassischen Rahm-Gurkensalat gehören sie auch für mich eindeutig so geschnitten.
- Bei türkischen und griechischen Salaten kennt man die Gurke in Würfel geschnitten, was zu einem ganz anderen, knackigen Bisserlebnis führt. Ausserdem tritt bei dieser Form viel weniger Flüssigkeit nach außen.
- Von der asiatischen Wok-Küche habe ich gelernt, dass viele Gemüse nicht in Scheibchen, sondern längs in mundgerechte Stifte geschnitten werden. Ich finde, gerade bei der Gurke bringt das ein optimales Ergebnis. Dabei wird die Gurke der Länge nach halbiert, die Kerne mit einem Teelöffel ausgeschabt, die Gurkenhälften längs in Streifen geschnitten und auf die gewünschte Länge gekürzt. Die Dicke dieser Stifte kann natürlich variiert werden: eher dünn (5-7mm) wenn sie roh gegessen werden, etwas dicker, wenn sie gebraten werden. In Asien wird auch gerne schräg und rautenförmig geschnitten.
- Ob man die Gurke schält oder nicht macht einen deutlichen Unterschied in der haptischen Wahrnehmung beim Essen. Man kann die Schale durchaus essen, sie ist nur deutlich bissfester als das Fleisch. Das spürt man beim Kauen.
- Natürlich spürt man auch, ob die Kerne und das gallertige Gewebe dazwischen entfernt wurden oder nicht. Je nach Rezept kann das eine oder das andere besser sein.
- Mit dem Schäler oder Hobel kann man auch breite Bänder der Länge nach herausschneiden – eine Mode, die eher auf eine optische Wirkung abzielt.
- Mit einem Kurbelschneider kann man sogar Nudeln aus Gurken herstellen; wenn man will, sogar endlos lange.
- Für manche Speisen wird das Gemüse grob gerieben – etwa für das griechische Tzatziki – oder sogar püriert, wie für den spanischen Gazpacho.
- Auch bei der klassischen Wiener Gurkensauce wird geschält, längs halbiert und mit dem Löffel entkernt. Die Gurkenhälften werden quer zu etwa 6mm dicken Halbscheibchen geschnitten. Die Form erinnert an Halbmonde oder Kipferl und passt perfekt zur rahmigen Sauce, besser als jede andere.
- Dann gibt es in vielen Kochkulturen allerlei gefüllte Gurken.
Brachiale Einfachheit aus Sichuan
- Eine brachiale und äußerst interessante Gurkentechnik wird in der chinesischen Provinz Sichuan praktiziert: Die Gurken werden dabei mit festen Schlägen regelrecht “zertrümmert”; die dabei entstehenden Bruchstücke haben eine unregelmäßige Oberfläche worauf ein Dressing besser haften kann, als auf glatten Schnittflächen.
Gurken eignen sich auch wunderbar zum Braten oder Schmoren. Dafür müssen die Stücke Körper haben, also nicht zu klein sein, damit sie innen knackig bleiben während sie aussen eine gewisse Weichheit bekommen. Überkochte, bis innen weiche Gurken sind furchtbar.
Für das kurze Braten bei großer Hitze im Wok oder in der Pfanne sind mundgerechte Stäbchen ideal. Durch die gleichmäßige Dicke werden sie an allen Stellen gleich gar. Etwas dickere Halbmonde funktionieren aber auch gut. Man kann die Stücke sogar ein bisschen anbräunen, wenn man sie im Wok nicht gleich umrührt, sondern erst einmal auf einer Seite scharf anbraten lässt, bevor man sie bewegt. Wie bei fast allen Lebensmitteln intensiviert und erweitert das die Aromen.
Michael Langoth (aus “Das kulinarische Manifest” Verlag A. Pustet 2017)
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